Es ist kaum zu glauben. An diesem Sonntag ist etwas anders als sonst. Das Licht in unserem Zimmer scheint heller zu sein. Wir schieben den schwarzen Rollvorhang nach oben und trauen unseren Augen kaum. Ein wolkenfreier Himmel erstrahlt in einem wasserblauen Farbton. Die Sonne gleicht einem gelben Feuerball. Ein Blick auf das Thermometer lässt uns in Freudenschreie ausbrechen. Die 20° wurden längst geknackt. Wir können es kaum glauben und ziehen uns wie gewohnt mehrlagig an, denn schließlich kann das Wetter schnell umschlagen. Doch schon nach dem Öffnen des Fensters stellen wir fest, dass heute ein perfekter Sommertag wird. Ideal für eine Wanderung.

Das erste Frühstück unter freiem Himmel zelebrieren wir mit allerlei Köstlichkeiten. Selbstgemachte Bananen-Pancakes, Hummus verfeinert mit den Wurzelknollen einer rot gefärbten Zuchtform von Beta vulgaris (genannt Rote Bete, Rote Beete oder Rote Rübe) und frisch gebackene Brötchen stehen auf dem Frühstückstisch. Schokobällchen versüßen uns den Morgen. Nach diesem morgendlichen Festmahl packen wir unsere Rucksäcke. Obwohl wir nur einen zweitägigen Ausflug planen, sind die Rucksäcke prall gefüllt mit Kleidung für alle Eventualitäten und mit Essen für ein weiteres Festmahl. Oder mehrere. Am frühen Nachmittag starten wir unseren Ausflug. Acht Deutsche und eine Schwedin. Eine fast touristisch anmutende Gruppe zwängt sich in einen Seat Marbella vom Baujahr 97 und in einen schwedischen Mietwagen – ebenfalls nicht größer als der in die Jahre gekommene Seat. Der kleine Flitzer wirkt fast sportlich mit seinen weißen Dekorationsstreifen und der mit Leopardenmusterstoff verkleideten Armatur. Auch der Motor klingt ein wenig nach Sportwagen, auch wenn das Gefährt mit vier Personen und der gleichen Anzahl an voll gepackten Trekkingrucksäcken kaum auf 90 km/h kommt. Wir erreichen nach einer halben Stunde Fahrt unseren Ausgangspunkt nahe der Grenze zu Norwegen.

Die Wanderung ist kurz aber intensiv. Es geht in Richtung Süden kontinuierlich bergauf. Der Pfad schlängelt sich durch riesige Felsblöcke, die von den massiven Steilwänden abgebrochen sind und nun das Landschaftsbild prägen. Wir kommen immer höher, bis wir die Baumgrenze erreicht haben. Von nun an zeigt sich die Natur in einem saftigen Grün. Der Pfad führt uns durch blumenreiche Wiesen, über idyllische Gebirgsbäche und kleine Hügel. Wie aus einer anderen Welt präsentiert sich das Kärkevagge, das übersetzt so viel bedeutet wie das Tal der Steine. Dieses Gebiet blickt auf eine lange Geschichte zurück. Seine Entstehung geht auf die Geschehnisse der letzten Eiszeit zurück. Wir fühlen uns wie Frodo auf seinem Weg durch Mittelerde.
Die Sonne brennt mittlerweile vom Himmel und die Bewegungen werden zunehmend träger. Jeder Gebirgsbach dient uns als erfrischende Trinkwasserquelle. Nach schier endlos erscheinenden vier Kilometern erreichen wir durchgeschwitzt unser Lager für diese Nacht auf einer Höhe von 720 Metern. Die Hütte liegt geschützt zwischen den riesigen Felsblöcken mit Blick auf ein saftig grünes Flussdelta, das von klaren Gebirgsbächen gespeist wird. Über einen kleinen Trampelpfad geht es hinab zu einem glasklaren Bach an dessen Ufer eine holzbefeuerte Sauna liegt. Wir stärken uns mit einem gut gewürzten Nudel-Linsen-Gericht und befeuern die Sauna mit unseren mitgebrachten Birkenstämmen. Hellgraue Rauchwolken steigen aus dem Schornstein empor. Über das Tal legt sich der Duft von brennendem Holz. Es ist der Duft der Wildnis.
Wir lassen den Tag ausklingen mit ausgiebigen Saunagängen. Es ist fast unwirklich, wie wir in der kleinen Holzhütte schwitzen und dabei über ein Felsental mitten in die Abendsonne blicken. Ein Hauch von Luxus mitten in Nordschweden. Kein Mensch weit und breit. Nach der Schwitzeinheit wartet der Sprung in das eiskalte Wasser des Gebirgsbachs. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie kalt das Wasser doch eigentlich ist, springen wir in den Bach. Ein Gefühl der Lebendigkeit durchströmt den Körper.

Die Sonne hat mittlerweile ihren tiefsten Stand am Himmel erreicht. Sie taucht das Tal in ein warmes Licht. Auf den grünen Wiesen des Flussdeltas hat sich eine Herde Rentiere zum Rasten niedergelassen. Immer wieder ertönt ein respekteinflösendes Donnern aus den Bergen. Mit jedem Grollen sucht sich eine Lawine den Weg hinab in das Tal. Ein beeindruckendes und zugleich beängstigendes Gefühl macht sich breit und erneut wird uns bewusst, wie rau die Natur hier doch ist. Mit diesen überwältigenden Eindrücken bereiten wir uns auf die Nachtruhe vor. Einige schlafen in der kleinen Hütte, während andere die Nacht unter freiem Himmel verbringen. Auch ich suche mir einen perfekten Schlafplatz zwischen den Felsblöcken mit Blick auf die Mitternachtssonne. Mit dem Gefühl der endlosen Freiheit schlafe ich ein. Die Kälte weckt mich, als die Sonne hinter den Gebirgsketten verschwunden ist. Bis auf die reißenden Bäche, die an jeder Seite des Tals von den Gipfeln in die Tiefe stürzen, ist nichts zu hören. Und ich schlafe wieder ein, bis mich die warmen Sonnenstrahlen einige Stunden später im Gesicht kitzeln.

Wir genießen unser Frühstück mit Polarbröd, frisch gekochten Eiern und Kaffee unter der strahlenden Sommersonne. Die ersten Wanderer sind in der Ferne zu erkennen und wir machen uns gut gestärkt auf zu unserem Tagesziel. Etwa einen Kilometer entfernt von unserem Nachtlager liegt der Rissajaure, der besser bekannt ist als Trollsjön. Kleine Trampelpfade führen uns hinauf bis zum Ufer von Schwedens klarstem See. Das tiefblaue Wasser umspült Steine und Felsen. Steile Felswände umringen den See. Von allen Seiten stürzen Schmelzwasserbäche hinab. Hoch oben auf den Gipfeln kämpfen die letzten Schneefelder gegen die brennenden Sonnenstrahlen an. An einem abgelegenen Strandabschnitt, den wir durch Klettern an der Steilwand erreichen, breiten wir uns aus. Auf der Wasseroberfläche treiben Eisschollen, die von Tag zu Tag schrumpfen. Noch vor einer Woche war der gesamte See von einer gefrorenen Schicht bedeckt, so berichtet uns unsere neu erkorene schwedische Reiseleiterin. Ohne darüber nachzudenken, wie kalt der See sein mag, springen wir hinein in das azurblaue Wasser. Es fühlt sich an, als ob Millionen kleiner Nadelspitzen die Haut durchdringen. Das Atmen fällt schwer. Trotz dem Versuch sich zu entspannen, lassen die Lungen nur ein schnappendes Atmen zu. Nach einer kurzen Schwimmrunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt, versuche ich das rettende Ufer zu erreichen. Mit jeder Bewegung schwindet das Gefühl in den Gliedmaßen. Am Ufer angekommen dauert es einige Minuten, bis die Sonne den Körper erwärmt und das Taubheitsgefühl langsam nachlässt. Wir genießen ein ausgiebiges Sonnenbad, bevor wir uns auf den Rückweg begeben. Vor der Wanderung füllen wir noch einmal unsere Wasserreserven auf, denn auch heute ist die brennend heiße Sonne unser Wegbegleiter.

Der Rückweg führt uns wieder aus dem Tal heraus, hinab bis zur Straße. Immer wieder begegnen wir anderen Wanderern. Der klarste See Schwedens mit einer Tiefe von 34 Metern ist ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen und Einheimische. Und dennoch hat sich dieser kleine Ausflug zu einem Abenteuer entwickelt, das auch vor unserer Heimreise noch einmal für einen Adrenalinschub sorgte. Denn unser kleiner Seat hat sich während der Wendemanöver auf der Autobahn dazu entschieden, nicht rückwärts fahren zu wollen. Ein Glück, dass der kleine Flitzer kaum Gewicht hat. Drei Helfer schoben uns rückwärts auf die andere Straßenseite, sodass wir die Kurve bekamen. Ein Glück, dass Schwedens Autobahnen einer ruhigen Landstraße in Deutschland gleichen. Der Rest der Fahrt verlief problemlos und wir begießen den Nachmittag mit einem kühlen nordischen Bier.