Das kontinuierliche Tageslicht im Lappland hat seine Schattenseiten. Der Körper wird nach einem anstrengenden Feldtag müde, doch der Kopf denkt nicht an Schlaf. Denn schließlich ist es hell. Wir sitzen in einer kleinen Runde am See, machen Lagerfeuer und rösten köstliches Stockbrot. Dazu gibt es ein eisgekühltes norwegisches Bier mit 4,5%. Frisch importiert aus einem Systembolaget in Kiruna. Ich fühle mich auch ohne diesem Bier, als hätte ich die letzte Nacht durch gefeiert. Mitternacht ist schon längst vorbei, aber die Sonne lässt uns die Uhrzeit vergessen. Einzig mein Brot, das gerade den warmen Backofen genießt, zwingt mich zum Aufbruch. Das ist auch gut so, denn in weniger als sechs Stunden klingelt der Wecker.
Sechs Uhr am Morgen. Der Wecker holt mich mit einem unsaften Piepen aus dem Schlaf. Ein warmes Licht durchflutet das Zimmer. In letzter Zeit scheint uns das Wetter gut gesonnen zu sein. Es ist wieder einer dieser wunderschönen Sonnentage. Es geht nach mehr als einem Monat nach Kiruna. Zwei Kollegen müssen ihren Flieger erreichen. Eine willkommene Gelegenheit für einen Großeinkauf. Abisko hat einen Supermarket, der neben Lebensmitteln eine Menge an verführerischen Süßigkeiten, niedrigprozentigem Alkohol und einem Sammelsurium an Outdoot-Survival-Artikeln anbietet. Ein kleiner Laden, der den Touristen (und uns) das Geld aus der Tasche zieht. Unsere deutsche Pünktlichkeit zeigt sich auch an diesem Morgen. Wir stehen mit prall gefüllten Geldbeuteln und leeren Rucksäcken bereit. Die internationale Gelassenheit lässt und ungeduldig werden. Wir müssen unsere zwei Mitfahrer drängen. Mit einer akzeptablen Verspätung von 15 Minuten geht unser Roadtrip los. Wir fahren dicht an dicht in einem Skoda Octavia mit dem Logo des Polarforsknings institut. Unsere Fahrt am Ufer des endlosen Torneträsks wird durch eine Füchsin mit ihrem pubertierenden Nachwuchs ausgebremst.
Der Einkauf muss schnell gehen. Wir müssen um 10 Uhr wieder in Abisko sein. Ich fülle meine Vorräte an Grundnahrungsmitteln auf. Die schwedischen Einkaufsmärkte bieten Mehl, Haferflocken, Reis und Nudeln in Großpackungen an. Ideal für Menschen, die eine längere Zeit ohne Einkaufsmöglichkeiten leben müssen. Mein Einkaufskorb füllt sich. Ausgestattet mit zehn Kilo Mehl, fünf Kilo Reis, zwei Kilo Nudeln und jeder Menge Schokolade geht es auf den Rückweg. Wir hängen in der Zeit hinterher. Knapp 30 Minuten für 96 Kilometer sind bei einem Tempolimit von 90 km/h nicht möglich. Unser Fahrer legt einen Gang zu. Statt der vorgegebenen 90 km/h steigt die Tachonadel auf 140 km/h. Wohnmobile und ordnungsgemäß fahrende Autos bremsen unseren Geschwindigkeitsrausch ab. Wir erreichen unser Ziel mit einer geringfügigen Verspätung und hören noch beim Ausstieg aus dem Auto eine Verkehrsmeldung im Radio. Wenige Kilometer vor Abisko wurde soeben die Autobahn wegen eines Unfalls in beide Richtungen voll gesperrt.
Bevor es an die Arbeit geht, gönnen wir uns ein zweites Frühstück. Ich komme seit einer gefühlten Ewigkeit in den Genuss von Bananen und Birnen. Ein Luxusgut. Mit dieser sättigenden Mahlzeit im Magen packen wir unsere Sachen und machen uns auf zum Njúlla. Mittlerweile hat sich der Himmel wieder zugezogen und die gewohnte Kälte macht sich breit. Für uns dennoch kein Problem, denn wir sind solche Wetterumschwünge bereits gewohnt. Der Njúlla präsentiert sich heute sanft. Auf dem Gipfel weht ein schwacher Wind und die Temperaturen bewegen sich mittlerweile dauerhaft im Plusbereich. Heute messen wir mit einer Apparatur aus Tablet und Satellitenempfänger die Ausdehnung der Schneefelder, die sich auf unserem Transekt befinden. Sie haben sich seit Beginn unserer Arbeit in diesem Jahr extrem schnell verkleinert. Auch im Vergleich zum letzten Jahr schreitet die Schneeschmelze deutlich schneller voran. Dass der Boden mittlerweile aufgetaut ist, merken wir auf unangenehme Art und Weise. Ein unbedachter Schritt führt dazu, dass ich im scheinbar festen Boden einsinke. Ich stehe bis zum Fußknöchel in einer schlammigen Masse zwischen größeren Steinen und versuche mich langsam zu befreien. Als ich es geschafft habe und auf einem sicheren Untergrund angekommen bin, bewegen sich die Erdmassen in Richtung Tal. In kurzer Zeit entsteht eine immer größer werdende Lawine aus Schlamm und Geröll. Sie hinterlässt eine Schneise, in der Schmelzwasser zu Tage tritt. Glücklicherweise flacht der Steilhang schnell ab, sodass sich die Lawine nicht allzu weit bewegt. Die Natur zeigt uns ihre Macht. Wir kämpfen uns durch das Mosaik aus Schneefelder, Schmelzwasserbächen und Geröllhalden, bis wir den trittfesten Gürtel aus Kräutern erreichen.
