Auf Abwegen in den Bergen

Der Wecker spielt anders als sonst eine liebliche Melodie. Während wir jeden morgen von einer vibrierenden Sportuhr geweckt werden, ist es heute das Smartphone, das und um 8:45 Uhr auf dem Schlaf holt. Die Melodie ist so sanft, dass das Erwachen schwer fällt. Nach einer gefühlten Ewigkeit im Bett blicken wir auf die Uhr und stellen fest, dass seit dem Ertönen der Weckmelodie eine halbe Stunde vergangen ist. Wir schieben das schwarze Rollo nach oben und stellen mit großer Freude fest, dass die Sonne vom Himmel strahlt. Das Thermometer zeigt 9° an, aber bei diesem strahlend blauen Himmel ist die Hoffnung groß, dass die Temperaturen heute in den frühlingshaften Bereich steigen. Während einem ausgiebigen Frühstück mit frisch gebackenem Brot, frisch aus Kiruna eingeflogenen Bananen und Kaffee geht es an die Tagesplanung. Ich nehme mir eine Wanderung auf den Njúlla vor. Es sollte eine Tour werden, die bis zum Gipfel führt und schließlich in südlicher Richtung ins Kårsavagge ausläuft, um mich im Tal wieder zurück zum Ausgangspunkt zu geleiten.

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Die berühmte u-förmige Talsohle Lapporten

Mit einem Rucksack voll mit Wasservorräten, Salbei-Tee und diversen Leckereien schreite ich aus unserem roten Holzhaus und stelle fest, dass es sich nicht wie 9° anfühlt. Eher wie 18°. Es ist T-Shirt-Wetter. Am Fuße des Berges angekommen, entscheide ich mich für eine neue Route. Sie führt mich vorbei an einer idyllisch gelegenen Hütte und einem einsamen Friedhof, der von einer alten Steinmauer umgeben wird. Die Trampelpfade verlaufen sich nach und nach, bis ich ohne Weg durch den Birkenwald stapfe. Die Krautschicht erstrahlt in den buntesten Farben. Es wachsen lilafarbene Storchschnäbel, gelbe Trollblumen und rötliche Lichtnelken. Am Himmel schreit ein Raufußbussard und ich nutze diese Gelegenheit für eine kurze Verschnaufpause. Die Sonne brennt vom Himmel.

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Raufußbussard

Erholt begebe ich mich wieder auf den Weg zum Gipfel. Das Gelände wird zunehmend steiler und unter dem Geschrei des Raufußbussards erreiche ich die Strauchschicht. Ich lasse den Wald mit seinem dichten Unterwuchs hinter mir und kämpfe mich durch hüfthoch wachsende Weiden. Rechts neben mir ertönt in regelmäßigen Abständen ein metallisches Klacken. Dieses unnatürliche Geräusch stammt von den Sesselliften, die von einem Drahtseil zur Station auf 900 Meter Höhe bewegt werden. Die Vegetation wird zunehmend offener. Ich befinde mich im krautigen Gürtel. Auf dieser Höhe wird es zu kalt für Gehölze. Hier wachsen nur noch krautige Pflanzen und ein paar Zwergsträucher, die sich dicht am Boden ausbreiten. Kurz vor der Liftstation mache ich eine weitere Pause und genieße den fantastischen Aussicht über den Torneträsk. An dessen Ufer liegt Abisko und die Forschungsstation. Den Blick weiter nach rechts gewendet, eröffnet sich der grandiose Blick in die u-förmige Talsohle von Lapporten.

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Torneträsk und Lapporten

Zwischen der Liftstation und dem Gipfel liegen etwa 200 Höhenmeter. Der Weg verläuft nun etwas flacher über eine grasartige Matte, in der Diapensien, Gämsheiden und Schuppenheiden kleine Farbklekse bilden. Mein botanisches Adlerauge bemerkt im Augenwinkel etwas außergewöhnliches. Eine Pflanze, die ich hier bisher noch nicht entdeckt habe. Ich stehe augenblicklich still, um das blaue Schimmern genauer zu untersuchen. Ein kleiner Freudenschrei entweicht meinem vom Aufstieg geschwächten Körper. Es ist ein fast winziges Exemplar des Schnee-Enzians. Es ist fast ein Wunder, dass sich diese zierliche Pflanze an diesem viel begangenen Standort direkt neben dem Trampelpfad durchgesetzt hat. Nachdem ich die Fotos im Kasten habe, mache ich mich auf zur letzten Etappe.

Der Blick vom Gipfel ist beeindruckend. Klare Sicht in alle Himmelsrichtungen. Mittlerweile sind Wolken aufgezogen und die Sonne ist nur noch als schwache Scheibe hinter einem weißen Schleier erkennbar. Wind zieht auf und es fühlt sich etwas frischer an. Zeit für einen Salbei-Tee. Immer wieder kommen Wanderer und Sportler vorbei, um die eindrucksvollen Aussichten zu fotografieren. Doch sie bleiben nicht lange und so kann ich die Atmosphäre ungestört genießen, bevor ich mich wieder an den Abstieg wage.

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Gebirgssee und die letzten Reste der Schneefelder

Ich wähle einen Weg abseits des eigentlichen Pfades. Er führt mich langsam vom Gipfel hinunter in ein kleines Tal. Vor mir liegt ein ruhiger Gebirgssee, der an seinem oberen Ende von Schmelzwasserbächen gespeist wird und am unteren Ende wieder in einem kleinen Bach ausläuft. Ich nähere mich dem Bach und fülle meine Wasservorräte auf. Eiskaltes und glasklares Wasser strömt zwischen den Steinen durch. Am Ufer blühen Alpen-Ehrenpreis, Nickender Steinbrech und Schneehahnenfuß. Ein alpines Idyll. In der Ferne erblicke ich die roten Kreuze an Holzpfählen. Sie symbolisieren die Pfade für Schneemobile. Ich gehe über das breite Flussbett des Gebirgsbaches und folge dem Skoterpfad in Richtung Süden. Es sollte der Weg sein, der mich ins Kårsavagge führt. Da meine Wanderkarte heute nicht zu meinem Rucksackinhalt zählt, muss ich mich auf eine Offline-Karte meines Smartphones verlassen. Diese besagte Karte erzählt mir jedoch, dass der Skoterpfad im Nichts endet. Eigentlich nicht möglich, aber die Unsicherheit überkommt mich, ob ich mich tatsächlich auf meiner geplanten Wanderroute befinde.

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Skoterled am Westhang des Njúlla

Die fortgeschrittene Zeit lässt mich eine Entscheidung treffen, die im Nachhinein vielleicht nicht die Klügste war. Mein Rückweg zum Ausgangspunkt liegt links neben mir im Tal. Ich folge nicht mehr dem Skoterweg in Richtung Süden, sondern bewege mich nach Osten. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, welches Gelände vor mir liegt. Vorerst geht es über kleine Wasserfälle und Felsen einige Höhenmeter dem Tal entgegen. Vor mir liegt eine Kante. Um zu sehen, wie steil es dort ist, klettere ich über die größer werdenden Felsen und rutsche auf moosbewachsenen Flächen herunter. Das Gelände wird steiler und steiler. Jeder Schritt muss nun gut überlegt sein. Ein falscher Tritt könnte im schlimmsten Fall einen gebrochenen Knöchel bedeuten. Ich komme in die Strauchschicht und kann die Gehölze zum Festhalten bei meinem Abstieg nutzen. Ein leises Plätschern dringt in meine Ohren und schnell wird mir die Ursache bewusst. Ein Wasserfall tut sich zu meiner Rechten auf. Das Wasser fällt an einer senkrecht abfallenden Steilwand in die Tiefe. Für mich gibt es hier keine Chance, weiter abzusteigen. Adrenalin macht sich im Körper breit. Ich bin hellwach und muss den weiteren Weg planen. Meine Gedanken schwanken zwischen zwei Alternativen. Ich kann die Felswand hoch klettern, um auf den ursprünglichen Weg zu gelangen, oder ich suche mir eine bessere Möglichkeit für den Abstieg. Da mir die Zeit im Nacken sitzt, entscheide ich mich für die zweite Variante. Mit vorsichtigen Schritten bewege ich mich wieder in nördliche Richtung, parallel zum Abhang bis das Gelände ein wenig flacher wird. Zu meinem Glück finde ich eine Stelle, an der ich die steile Felswand hinabklettern kann.

Das Gelände beruhigt sich wieder. Ich befinde mich im bekannten Baumgürtel mit dem bunten Unterwuchs. Kleine Trampelpfade, die immer wieder von Elchen genutzt werden, kreuzen meinen Weg. Nach einer weiteren Stunde erblicke ich im Dickicht der Gehölze helle Holzbohlen. Es ist der Pfad, der mich zurück zu meinem Ausgangspunkt bringt. Bevor ich den Rückweg antrete, stärke ich mich mit einem letzten Rest Haferbrei und einer halben Banane.

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Blick von unten auf die Steilwand

Das Adrenalin ist aus dem Körper verschwunden. Müdigkeit macht sich breit. Aber ich habe noch einige Kilometer vor mir. Ich werfe einen Blick zurück zum Berg und bemerke, dass ich zufällig die steilste Stelle für meinen Abstieg ausgewählt habe. Trotz meiner Trägheit behalte ich einen schnellen Schritt bei, denn ich weiß, dass der kleine Rest an Haferbrei nicht lange sättigen wird. Ich komme gut voran, bis mich erneut ein Farbkleks am Wegesrand erstarren lässt. Eine Gefleckte Fingerwurz breitet ihre dunkel getupften Blätter über dem Boden aus. Sie fängt langsam an, ihre gemusterte Orchideenblüten zu öffnen. Ein letztes Highlight an diesem Tag. Am Abend habe ich 17 Kilometer, 1800 Höhenmeter und 9 Stunden in den Beinen.

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