Gefühlsleben – Einblicke in unser Heim

Jeden Morgen weckt uns Otta, die vor nunmehr fünf Jahren in mein Leben eintrat. Damals hieß sie noch Otto, denn das war der Name, den mir das Greifswalder Tierheim mitteilte. Ein aufgewecktes, tollpatschiges Männchen, das allerdings nicht sehr zutraulich war. Der Umzug nach Schweden war ein Glücksfall für uns alle. Otto wurde von Tag zu Tag zutraulicher. Eines Tages veränderte sich alles. Ein Ei lag im Käfig. Aus Otto wurde Otta und Otta entwickelte seit dem eine zunehmend engere Bindung zu uns. Sie sehnt sich immer mehr nach Kontakt. Jeden Morgen weckt sie uns mit einem mehr oder weniger sanften Schreien, kommt ans Bett geflogen und verweilt dort, bis wir wach geworden sind. Danach beginnt die Kuschelstunde, von der sie nicht mehr genug bekommen kann. Sie ist ein fester Teil im Alltag und begleitet uns in ihrem Transportkäfig auf kleineren Reisen.

Von Zeit zu Zeit müssen wir unserer kleinen Idylle entfliehen, um Einkäufe zu erledigen. Für Großeinkäufe geht es mit dem alten Mercedes-Transporter in das 85 Kilometer entfernte Skellefteå. Es bedeutet Stress für uns drei, denn weder wir möchten uns in den Alltagstrubel der Großstädte begeben, noch möchte Otta den Tag alleine zu Hause verbringen. Ihren Unmut bekommen wir am Abend nach unserer Rückkehr deutlich zu spüren. Sie straft uns mit einer arroganten Ignoranz. Glücklicherweise dauert es nicht lange und der kleine Vogel hat uns verziehen. Erwartungsvoll tapst sie in unsere Richtung und streckt ihr Köpfchen mit halb angelegter Kopfhaube zu uns hin. Die Schmusestunde beginnt und in mir macht sich ein Gefühl der inneren Ruhe breit.

Ich sitze in meinem Lieblingssessel in unserer traumhaften Küche. Hier auf dem Land, mitten im Nirgendwo, in unserem kleinen roten Holzhäuschen im nordschwedischen Västerbotten gibt es keine Regeln oder Verpflichtungen. Es ist ein In-den-Tag-hineinleben. Die einzige Pflicht besteht darin, das Leben und den Tag zu genießen. Der Geist fühlt sich frei. Er muss erst wieder lernen, was es bedeutet, kreativ zu sein. Zu lange ist es her, dass die Kreativität aus dem tiefsten Inneren heraus durfte. Nun haben wir die Möglichkeit, unsere Ideen zu verwirklichen und in kleineren oder größeren Bauprojekten auszuleben.

Es ist viel passiert, seit unserem offiziellen Einzug. Einrichtungen, die das Leben auf dem Land komfortabler gestalten, funktionieren mittlerweile. Glasklares und eiskaltes Wasser sprudelt aus dem Wasserhahn – frisch auf den tiefen Schichten in der Podsol-Erde. Die Vorderseite des Hauses erstrahlt in einem frischen Falunrot. Das Schwedenrot ist die typische Farbe der Holzhäuser. Das Pigment Falunrot ist ein Abfallprodukt, welches aus dem Abraum des Kupferbergbaues stammt. Im 16. Jahrhundert gewann der Farbton eine besondere Bedeutung, denn in dieser Zeit nutzen die Menschen das Pigment für die Herstellung einer Streichfarbe. Es war eine Lösung, die aus der Not heraus entstand. Das Geld war knapp und man wollte, dass die schwedischen Häuser den Backsteinbauten von wohlhabenden Mitteleuropäern ähnelten. Eine kostengünstige Idee, die zum unverwechselbaren Charme Schwedens führte.

Unser Haus erhält diese Tradition aufrecht. Die Küche erinnerte vor den Renovierungsarbeiten an eine Seniorenromantik. Mit Blümchen verzierte Tapeten schmückten die Wände. Große Spanplatten hingen an der Decke. Sie wurden mit weißer Farbe gestrichen, die nun durch den über fünf Jahre anhaltenden Leerstand des Hauses und die daraus resultierende Feuchtigkeitsansammlung abblätterte. Große Fetzen hingen von der Decke in den Raum hinein. Ein verwahrloster Anblick. Nach der Renovierung herrscht in der Küche eine rustikale Atmosphäre. Sie erinnert mit ihren nackten Holzbohlenwänden an eine einsame Hütte in den Bergen. Die Zeit hat ihre Spuren auf den Holzbohlen hinterlassen. Die große Küche mit ihren reinweißen Holztüren geben der urigen Küche einen gemütlichen Charakter. Die holzfarbenen Türgriffe an den Schranktüren bilden den perfekten Kontrast. Es ist ein Ort, der zum Verweilen einlädt und in mir macht sich ein Gefühl der Zufriedenheit breit.

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Wohnlich

Ehe ich mich versehe, sitze ich mit meinem Lieblingssessel, der eben noch in der Küche stand, mitten im Garten und lausche dem Wind, der sanft die Blätter der Birken rauschen lässt. Meisen rufen in den Sommerfliederbüschen, deren einstige Blütenpracht nur noch an verwelkten Blütenständen zu erahnen ist. Bis auf die Klänge aus der Natur herrscht eine beruhigende Stille. Keine vom Menschen gemachten Geräusche sind zu hören. Hier draußen in unserem falunroten Holzhaus leben wir in völliger Abgeschiedenheit.

Mein Blick schweift über die prächtige Wiese. Sie ist seit meinem letzten Besuch etwa 50 Zentimeter gewachsen. Die Klappertöpfe haben ihre Blütezeit bereits hinter sich. Sie werden nun abgelöst von den farbenfrohen Blüten der Glockenblumen, Schafgarben und Weidenröschen. Zwischen den dichten Horsten aus Rotschwingel- und Schmielen-Gräsern strecken sich die zierlichen Triebe des Wald-Wachtelweizens in die Höhe. Eine Schmetterlingsart, die zu der artenreichen Gruppe der Bläulinge gehört, schwirrt in Mengen von Blüte zu Blüte. Es ist der Dukaten-Falter, dessen leuchtend orange-rote Färbung über seine Zugehörigkeit zu den Bläulingen hinwegtäuscht. Ein Gefühl der Freiheit macht sich in mir breit und ich genieße jeden Atemzug.

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