Jeder, der eine Nacht in der Kårsavagge-Hütte übernachtet, wird nicht zur Ruhe kommen. Die Hütte beschert jedem Rastsuchenden eine schlaflose Nacht. Der Spuk treibt hier sein Unwesen, heißt es. Einst sollen Wanderer, die in den Bergen rund um das Tal unterwegs waren, von einem schweren Schneesturm überrascht worden sein. Sie fanden in diesem Gebirge den Tod. Ihre sterblichen Überreste wurden niemals gefunden. Sind es ihre Seelen, die den Besuchern ihren Schlaf rauben? Das Tal wird von einem weiteren tragischen Ereignis überschattet. Das schwedische Radio berichtete 2003 von einer Tragödie, die sich am 9. Mai des besagten Jahres im Kårsavagge abspielte. Ein erfahrener russischer Skifahrer flog mit einem Helikopter in das Tal, begleitet von einem gebietskundigen Bergführer und einem befreundeten Skifahrer. An diesem Tag löste sich eine Schneelawine. Die mächtigen Schneemassen begruben alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Der Skifahrer fiel der Lawine zum Opfer und konnte nur noch tot geborgen werden. Ist es sein Geist, der mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit der Wanderer auf sich ziehen möchte? Was hat es mit diesem Ort auf sich? Ist die älteste Hütte der Svenska Turistförening (zu deutsch: Schwedischer Tourismusverband, kurz: STF) tatsächlich mit einem Fluch belegt? Ich möchte dieses Mysterium ergründen und eine Nacht in diesem scheinbar verfluchten Tal verbringen.
Die Wetterprognosen versprechen zwei sonnenreiche und heiße Tage. Meine Tour führt mich parallel zur E10 in Richtung der Abisko Turiststaion. Der Parkplatz steht voller Autos und Wohnmobile. Eines größer als das andere und mir wird sofort bewusst: Es sind massig Touristen unterwegs. Der Großteil wird auf dem sagenhaften Kungsleden wandern. Unweit der Turiststation zweigt ein kleiner Trampelpfad von der Schotterstraße ab. Er führt direkt hinein in den Birkenwald und verläuft auf dem ersten Kilometer entlang des Abiskojåkka. Der Fluss, dessen samische Bezeichnung jåkka lautet, wird gespeist von Gebirgsbächen. Vor mehr als 10.000 Jahren wurde das Tal von einem Gletscher bedeckt. Als der Gletscher zu schmelzen begann, formten Erosions- und Frostsprengungsprozesse einen Canyon, der heute ein echter Touristenmagnet ist. Die Schlucht besteht aus übereinander gelagerten Platten aus Glimmer- und Tonschiefern. Zwischen den Schichten lagert ein gelbliches Mineral, welches als Marmorbrottet oder Abiskomarmor bekannt wurde. Es ist eine Art Dolomit, der im frühen 20. Jahrhundert in der Region abgebaut wurde.

Seit meiner letzten Wanderung auf diesem Pfad zum Rihtonjira-Wasserfall hat sich das Vegetationsbild drastisch verändert. Das einstige Blütenmeer aus Scharfem Hahnenfuß (Ranunculus acris), Trollblume (Trollius europaeus), Wald-Storchschnabel (Geranium sylvaticum) und Niederliegendem Vergissmeinnicht (Myosotis decumbens) hat sich zu einer eintönig grünen und dichten Krautschicht entwickelt. Prächtige Bestände des Schmalblättrigen Weidenröschens (Epilobium angustifolium) stehen kurz vor ihrer Blüte.
Das Gelände steigt kontinuierlich an. Der Birkenwald weicht einer dichten Strauchschicht aus Seidenhaarigen Weiden (Salix glauca), Lappland-Weiden (Salix lapponum) und Woll-Weiden (Salix lanata). Sie teilen sich das Merkmal der mehr oder weniger dichten Behaarung, die diesen Weiden ihren grauen Schimmer verleiht. Ich bahne mir einen Weg durch das dichte Geäst der mannshohen Sträucher, dessen wild wüchsige Zweige Kratzer an meinen Waden hinterlassen. Nach sechs Kilometern verändert sich das Landschaftsbild erneut. Die Vegetation wird niedriger. Es dominieren Zwergsträucher wie Zwerg-Birke (Betula nana), Zwerg-Weide (Salix arbuscular) und niedrigwüchsigem Wacholder (Juniperus communis). Mit den Bäumen verschwinden auch die schattigen Plätze. Die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel und lässt den Schweiß fließen.

Meine Gedanken kreisen. Ich kann nicht wirklich abschalten und diese atemberaubende Landschaft genießen. Vielleicht liegt es an der Hitze, die mir den Verstand raubt. Oder es ist der Tatsache zu verschulden, dass ich mich inmitten der Wildnis nicht einsam und frei fühle. In unregelmäßigen Abständen kommen mir Wanderer entgegen, die einzeln oder in kleineren Gruppen aus dem Tal den Weg zurück in die Zivilisation suchen. Welche Ereignisse mögen sie erlebt haben? Wo sind sie gestartet und wo wollen sie hin? Eine in die Jahre gekommene Schwedin berichtet mir von ihrem Aufbruch in Stockholm. Sie wunderte sich über die heißen Temperaturen hier oben in der arktischen Zone. Aber sie war glücklich, dass es nicht so heiß war wie noch vor einem Tag bei ihrem Aufbruch in Stockholm. Sie wünscht mir eine gute Weiterreise und verschwindet im Wald. Nicht alle Wanderer tragen schweres Gepäck auf dem Rücken. Viele wandern mit einem Tagesrucksack und befinden sich bereits auf dem Rückweg, der sie vermutlich zu ihren Betten in der Turiststation führt.
Ich erreiche den Kårsajåkka, der in den Abiskojåkka mündet. Eine abenteuerliche Hängebrücke aus Holzbohlen hängt tief über dem reißenden Fluss. Der Weg endet direkt auf der anderen Seite des Ufers. Ein Vater mit seinen vier Kindern fragt mich, ob ich auf dem Weg zur Kårsavagge-Hütte bin. Ich verneine diese Frage und deute auf mein Zelt. Er erzählt mir davon, dass er und seine Kinder hier in der Nähe der Hängebrücke zelten, direkt an der Grenze zum Abisko Nationalpark, den ich bereits hinter mir gelassen habe. Der Weg zur Hütte sei beschwerlich, denn ein Gebirgsfluss kreuzt den Pfad und führt zur Zeit knöcheltief Wasser. Doch wegen der hohen Temperaturen der letzten Tage und den wenigen Niederschlägen herrscht ein niedriger Wasserspiegel im Bach. Ich verschwende keinen Gedanken daran, welche Hindernisse ich auf meiner Route noch zu bewältigen habe. Viel mehr fokussieren meine Gedanken die Entfernung, die wohl noch vor mir liegen mag. Meine Fußsohlen beginnen zu schmerzen. In meinem Kopf macht sich ein dumpf pochender Schmerz bemerkbar. Bei jeder Anstrengung wird das Pochen lauter und schneller. Meine Bewegungen verlangsamen sich automatisch, damit der durchdringende Schmerz nachlässt.
Ich blicke direkt in das Kårsavagge. Es ist ein atemberaubendes Tal, das von steilen Felswänden gesäumt wird. Im Tal liegen die drei Kårsa-Seen, die im samischen als Gorsajávri bezeichnet werden. Sie sind durch Flussabläufe miteinander verbunden. Der Pfad verlangt mir meine letzten Energiereserven ab. Er schlängelt sich durch Sümpfe, windet sich über Steine und führt über kleine Erhebungen. Neben mir zeigt sich der erste der drei Seen. Es ist der Vuolimus. Ein kleiner Waldabschnitt zieht sich von den Berghängen zu meiner rechten Seite bis an das Ufer des Sees. Während ich mich durch den Weiden-Wald über die am sumpfigen Boden kriechenden Äste kämpfe, fühle ich mich wie in einem dichten Regenwald. Nicht, dass ich schon einmal in einem Regenwald war. Aber ich stelle ihn mir in einer ähnlichen Art vor. Am Horizont erblicken meine müden Augen eine kleine Hütte. Es ist die mythenumwobene Kårsavagge-Hütte, die von Geistern heimgesucht werden soll. Im Licht der Abendsonne zeigt sich die kleine Holzhütte in einem wild romantischen Bild.

Ich bin an einem Punkt angekommen, an welchem mein Körper nur noch den Reflexen des Gehirns folgt. Ich denke nicht mehr darüber nach, dass ich laufe. Meine Füße bewegen sich wie von selbst in einem gleichbleibenden Rhythmus. Schritt für Schritt vorwärts. Der Schmerz zieht sich vom Kopf über die Schultern bis in die Füße. Die Hütte scheint zum Greifen nahe und doch erreiche ich sie nicht. Es ist, als ob eine unsichtbare Macht das Ziel von mir weg zieht. Ich fühle mich wie in einem altmodischen Film, in der sich ein Wanderer vor einer Kulisse bewegt. Die Kulisse bewegt sich, aber die ständige Abfolge des gleichen Bildausschnittes lässt den Wanderer nicht voran kommen. Zeigt sich mir der Spuk der verunglückten Seelen, die niemals ihren Frieden finden konnten und bis heute rastlos umher irren? Spielen sie mir einen Streich, indem sie mir vortäuschen, dass ich mich meinem Ziel durch das Voranschreiten meiner Füße nähere? Oder ist es die Macht des Mondes, der in dieser Nacht vollständig im Schattenkegel der Sonne verschwinden soll? Die Kräfte der Natur sind unergründlich und ich fühle mich von ihnen gesteuert. Mein Körper funktioniert nur noch. Er ist willenlos.
Ich stehe vor dem mir bereits beschriebenen Gebirgsfluss, der in einem rauschenden Wasserfall den Berg hinab schießt und sich kurz vor der Mündung in ein delta-artiges Gebilde aus Flusszweigen verändert. Das Wasser ist an keiner Stelle so flach, dass ich es trockenen Fußes überqueren könnte. Ich suche mir die jeweils breitesten Stellen der einzelnen Flusszweige, denn hier verteilt sich das Wasser auf eine größere Fläche und verliert somit an Tiefe. Meine Trekkingstöcke bewähren sich in dieser Situation. Sie helfen mir, die Wassertiefe zu ertasten und bieten mir einen sicheren Stand auf den aalglatten Steinen im Wasser.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen meine Füße die Hütte, die am oberen Ende des mittleren Sees Gaskkamus liegt. Es wimmelt nur so vor Menschen, die im Schutz der Holzbohlen eine Nacht verbringen möchten. Im Umkreis der Hütte haben drei bunt gefärbte Zelte ihr Nachtlager gefunden. Der Hüttenwart sitzt auf der Treppe seiner eigenen Holzhütte und empfängt mich mit einem warmen „Hej!“. Ich erwidere den Gruß und schleiche wortlos den kleinen Trampelpfad entlang. Mein Gehirn ist zu müde, um in diesem Augenblick eine Konversation auf Schwedisch führen zu können. Ich bin genervt von den Mengen an Wanderern, die hier und heute Nacht ihr persönliches Abenteuer suchen. Ihr Abenteuer kreuzt sich mit meinem Abenteuer und verwandelt das meine in eine zunehmend unabenteuerliche Reise mit touristischem Charakter. Ich fühle mich genötigt von den Anwesenden, meine Reise weiterzuführen. Trotz der Schmerzen bewegen sich meine Füße weiter vorwärts, ohne zu wissen, was sie in den späten Stunden an diesem Tag noch erwarten wird.
Der kleine Pfad verliert mit zunehmender Entfernung zur Hütte seine Markierungen. Er ist nur noch als Spur der zu Tode getrampelten Zwergsträucher erkennbar. Er führt direkt am Ufer des dritten und längsten Sees entlang, dem Bajimus. Sein Ende versteckt sich hinter den in das Tal ragenden Felswänden, die fast senkrecht abfallen. Ein Rauhfußbussard kreischt am Himmel. Als ich nach oben blicke, werde ich Beobachter eines unerbittlichen Kampfes zwischen dem Mäusebussard-ähnlichen Greifvogel und einer Falkenraubmöwe. Raubmöwen sind aggressive Vögel, die sich durch ein aufdringliches Verhalten bemerkbar machen. In diesem Fall hat sie es auf den Greifvogel abgesehen, der ihr in der Größe deutlich überlegen ist. Direkt unter diesen Streitigkeiten in luftiger Höhe verschärft sich mein innerer Kampf gegen das Laufen. Meine Bewegungen werden zunehmend instabiler. Jeder Tritt fühlt sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen davon schwimmen. Immer häufiger lassen die Kräfte nach und meine Füße können die Unebenheiten des Untergrundes nicht mehr ausgleichen. Die Muskulatur in den Waden gibt nach und ich knicke um. Mein Oberkörper biegt sich nach vorne und folgt dem Abhang einer kleinen Geländeerhebung, auf der ich mich befinde. Mein Rucksack bewegt sich durch sein Gewicht über meinen Kopf und zieht mich in Richtung Boden. Ich kann den Sturz nur noch mit den Händen abfangen. Adrenalin strömt durch meinen Körper. Das Gefühl der bald einsetzenden Ohnmacht weicht einem Zustand der völligen Gedankenklarheit. Ich versuche mich aufzurichten und ohne großes Zögern gehe ich weiter. Nach einigen Minuten bemerke ich die Nachwirkungen des Sturzes in meinen Handgelenken. Vor mir erstreckt sich ein riesiges Feld aus Felsbrocken, die meine Körpergröße deutlich überragen.

Ich habe den Kampf gegen das Geröllfeld gewonnen und blicke direkt in das Ende des Tals. Der helle Wasserlauf eines Gebirgsbachs zeichnet sich ab. Ich bewege mich in einem menschenleeren Umfeld und habe die freie Platzauswahl für mein Schlafgemach. Mit letzter Kraft schleppe ich mich den Abhang hinunter bis ans Ufer des Sees. Ich brauche eine Abkühlung. Das Wasser ist eisig kalt, aber nicht mit der Wassertemperatur des Trollsjön zu vergleichen. Ich genieße die letzten Sonnenstrahlen. Sobald die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist, wird es schlagartig kühler. Eine angenehme Temperatur, doch in der Annahme, dass die Nacht sehr mückenintensiv werden könnte, baue ich mein Zelt auf. Erschöpft begebe ich mich in meinen Schlafsack und genieße bei geschlossenem Mückenzelt die Aussicht. Es dauert nicht lange, und die Müdigkeit zwingt mich dazu, mich in meine Schlafposition zu bewegen. Trotz der Erschöpfung schlafe ich nicht sofort ein, denn ich fühle mich beengt im Zelt. Es ist ein seltsames Gefühl. Ich nehme verschiedene Geräusche wahr und kann die Quelle dieser Klänge nicht mit den Augen erspähen. Die Zeltwand setzt meinen suchenden Blicken eine Grenze. Ich liege auf dem Rücken und versuche mich nur auf meinen Gehörsinn zu fokussieren. Die rauschenden Klänge der Gebirgsbäche scheinen sich langsam zu verändern. Sie entwickeln sich zu einer Abfolge von Tönen, die mir fast wie eine Melodie vorkommt. Zwischen den Tönen erklingen Stimmen. Ist das Musik, die aus der Ferne zu mir dringt? Ich richte mich auf, um deutlicher hören zu können. Die Melodien sind verschwunden. Einzig das Wasser der Bäche plätschert und rauscht die Steilwände hinunter. Mein Verstand dreht durch. Die Sinne bewegen sich auf einer anderen Ebene. Sie scheinen nicht mehr das wahrzunehmen, was tatsächlich passiert. Ich lege mich hin und ehe ich mich versehe, befinde ich mich in einer Welt aus Träumen…
Was mich auf dieser Reise begleitet hat:

1-2 Personenzelt „Gran Canyon“ von Cardova*
Dieses Zelt wird für ein bis zwei Personen empfohlen, aber zu zweit wird es darin schon extrem kuschelig. Rucksäcke haben dann denfinitiv keinen Platz mehr und müssen die Nacht mit ihrer Regenschutzhülle im Freien verbringen.
Das Zelt begleitet mich seit 2012 auf jede Wandertour, daher habe ich noch die ältere Variante in graublau. Das neue Modell wurde grün gefärbt. Ich passe mit meinem Trekkingrucksack perfekt rein. Trotz der Trennung in ein luftiges Innenzelt mit Netzmaschen und ein Außenzelt gibt es Probleme mit Schwitzwasser an den Wänden. Die Lüftungsschlitze verschaffen da leichte Abhilfe. Wenn es ganz schlimm wird, mache ich die Vorderwand ein Stückchen auf. Das Innenzelt schützt mich auch weiterhin vor nervigen Insekten.
Dieser treue Begleiter hat seine Robustheit unter Beweis gestellt. Es hat zahlreiche Übernachtungen auf felsigem Untergrund ohne Schaden überstanden
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