Die Nacht verläuft unruhig. Immer wieder reißt mich etwas aus den Träumen. Ich kann meinen Rucksack und die Trinkblase neben mir sehen. Es ist es noch immer die ganze Nacht durch hell, auch wenn die Sonne mittlerweile um halb zwölf unter und gegen zwei Uhr in der Frühe wieder auf geht. Draußen ist alles ruhig. Da ist nichts, was mich meines Schlafes berauben könnte. Also versuche ich immer und immer wieder, mich in das Land der Träume zurück zu begeben. Als ich das nächste Mal erwache, ist es heiß in meinem Zelt. Die Sonne blinzelt über die Gipfel der Berge und erhöht die Temperatur in meinem Zelt schlagartig. Nicht ganz bei Sinnen winde ich mich aus meinem Schlafsack und blicke auf die Uhr. Es ist halb sieben. Draußen auf dem Wasser schreit eine Tauchente. Ich öffne den Reißverschluss meines Zeltes und werfe einen Blick nach draußen. Die Ente liegt mit ihrem Körper tief im Wasser und quackt. Es ist vollkommen windstill. Die Wasseroberfläche ist kaum zu erkennen, denn die Vegetation der Berghänge scheint sich in das Wasser hineinzuziehen. Die Grenzen zwischen Erde und Wasser verschwimmen.

Ich genieße den relativ kühlen Morgen mit einem ausgiebigen Frühstück am Wasser. Am hinteren Ende des Tals, wo sich der Gebirgsbach seinen Weg in das Tal sucht, bedeckt ein Gletscher die Gebirgshänge der höheren Lagen. Der Gorsajökel ist der erste Gletscher in Schweden, an dem wissenschaftliche Untersuchungen stattgefunden haben. Bereits im Jahr 1968 wurden seine Ausmaße vermessen. Bis zum Jahr 2018 hat sich seine Masse mehr als halbiert und die Schmelze schreitet unaufhörlich voran. Das gesamte Tal erzählt mir von einer Jahrtausend alten Vergangenheit. Es ist ein Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Das u-förmige Tal bildete sich in der letzten Eiszeit, als enorme Gletscher das Land bedeckten. Die riesigen Eismassen bewegten sich die Berghänge hinunter und formten steil abfallende Berghänge und ein flaches Tal, welches aufgrund seiner Gestalt den Namen Kårsavagge bekam – das Tal der Schluchten. Die Gletscher transportierten Geröll mit sich. Nachdem das Eis geschmolzen war, blieben die Brocken in der Landschaft zurück. Es bildeten sich Schmelzwasserseen, die noch heute von den Gebirgsflüssen gespeist werden. Der Gorsajökel ist ein Relikt aus dieser eisigen Zeit. Ein Zeitzeuge, der eine Zeitreise gemacht hat. Zeit ist ein unfassbarer Begriff. Relativ und dehnbar. Bestimmt durch eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Leider reicht meine Zeit nicht aus, um bis zum Gletscherrand vorzudringen, denn ich muss mich auf den Rückweg begeben.
Der Himmel ist wolkenlos, als ich mit meinem zusammengepackten Rucksack in Richtung Hütte laufe. Es soll ein heißer Tag werden und ich merke, wie die Kopfschmerzen des gestrigen Tages noch immer meinen Kopf plagen. Ich versuche das unaufhörliche Pochen mit regelmäßigen Abkühlungen im frischen Nass zu unterbinden, doch es ist nur von kurzer Dauer. Zu heiß ist die Temperatur und mein wasserdurchtränktes Kopftuch ist innerhalb weniger Minuten vollständig getrocknet. Obwohl ich nicht viel von meiner Umgebung wahrnehme, bemerke ich doch die ein oder andere botanische Schönheit. Der kleine Trampelpfad ist gesäumt von unzähligen Schnee-Enzianen (Gentiana nivalis), deren strahlend blaue Blüten nur so nach der Sonne lechzen. Zwischen den kleinen Kieselsteinen am Strand des Sees breiten Alpen-Lichtnelken (Silene suecia) ihre polsterförmigen Blätter aus. Nach drei Kilometern habe ich die Hütte erreicht. Einige Zelte vom gestrigen Abend stehen noch immer. Andere Nachtlager wurden bereits abgebaut. Der Hüttenwart ist damit beschäftigt, seine Kleidung zu waschen. Es wirkt wie ein idyllischer Ort, an dem sich die Besucher eine Auszeit vom stressigen Alltag gönnen können. Nichts deutet darauf hin, dass sich hier des Nachts rastlose Seelen von den Verunglückten ihre Scherze erlauben. Doch wer weiß, was an diesem Ort tatsächlich in dieser Nacht der Jahrhundert-Mondfinsternis ereignet hat.

Ich lasse die Hütte hinter mir und schreite immer weiter voran durch die immer heißer werdende Landschaft. Die Windstille macht die Wanderung nicht gerade einfacher. Ich sehne mich nach einem Fleckchen Schatten. Doch bis auf eine einzelne Birke, die den Witterungsbedingungen in diesem Tal trotzt, ist weit und breit kein schattenspendender Baum zu sehen. Ein älteres Paar läuft vor mir. Sie haben ihre Tagestour in der Hütte begonnen. Ihre Laufgeschwindigkeit ist noch niedriger als meine und so überhole ich sie schnell, obwohl ich sie erst vor kurzem am Horizont erblickt habe. Sie werfen einen Blick auf ihre Karte und diskutieren darüber, welches Ziel sie erreichen müssen. Als ich mich der Flussbiegung nähere, die mich zur Hängebrücke führt, drehe ich mich um. Das ältere Paar hat damit begonnen, ihr Zelt aufzubauen.

Endlich habe ich die Hängebrücke erreicht. Der beschwerliche Weg bis hier her kam mir vor wie eine Ewigkeit. Doch die Ewigkeit ist in diesem Moment vergangen und ich kann nach vorne blicken, mich auf den bevorstehenden Weg konzentrieren. Bevor ich dieses Vorhaben in Angriff nehme, gönne ich mir etwas Zeit. An der Brücke mache ich eine ausgiebige Rast zum Erholen und Erfrischen. Ein Blick auf mein Handy lässt mich ungläubig staunen. Ich habe heute damit begonnen, meinen Weg aufzuzeichnen. Mein Handy gibt mir zu verstehen, dass ich von meinem Nachtlager bis zur Hängebrücke bereits elf Kilometer gelaufen bin. Meine Fußsohlen bestätigen mir dieses Aussage. Doch ich muss weiter gehen, weiter den steigenden Temperaturen standhalten und meinen Körper zur Überwindung auffordern. Irgendwann habe ich den Moment überschritten, indem ich mich zu jedem weiteren Schritt zwingen muss. Trotz aller Schmerzen, die mittlerweile unerträglich geworden sind, schreiten meine Füße voran. Ich muss nicht mehr kämpfen.

Der Weg durch den Birkenwald wurde besucherfreundlich gestaltet. Über den veralteten Holzbohlen-Pfaden, die mittlerweile fast vollständig im sumpfigen Untergrund verschwunden sind, wurden frische Bohlen verlegt. Sie strahlen in einem unverwitterten hellbraun. Ihre Funktion besteht darin, den Wanderer trockenen Fußes durch sumpfige Gebiete und über Flüsse zu bringen. Doch seit ein paar Wochen haben diese Holzbohlen keine Funktion mehr. Genau genommen, seit die Hitzeperiode auch Nordschweden eingenommen hat. Sämtliche Bäche im Birkenwald sind ausgetrocknet, frische Quellen sind versiegt. Die Erde ist heiß und leidet unter dem Wassermangel. Ich leide mit ihr.

Ich kann mich am Ende dieses Tages nicht mehr daran erinnern, wie ich den letzten Teil dieser Etappe geschafft habe. Schon wieder ist es die Zeit, die mich verwirrt. Wie konnte der Nachmittag an mir vorbeiziehen, ohne auch nur eine Erinnerung zu hinterlassen? Frisch geduscht und total erledigt, aber überglücklich liege ich in meinem Bett. Ich habe in diesen zwei Tagen 40 Kilometer bewältigt und die Hitze überstanden. Es ist nach jeder Wanderung überwältigend, was der Körper schaffen kann, obwohl der Geist bereits aufgegeben hat. Ein Wunderwerk der Natur, dessen einzige Funktion es ist, zu überleben. Zu funktionieren. Nicht aufzugeben. Die Gründe meiner merkwürdigen Erlebnisse bleiben mir verborgen. Womöglich hat mich meine Wahrnehmung getäuscht, die wiederum durch die Hitze in einen fast unzurechnungsfähigen Zustand gekommen ist. Alleine in der Wildnis spürt der Mensch, dass er der Natur ausgesetzt ist. Alles ist unvorhersehbar und jedes unbekannte Geräusch ruft eine innere Angst hervor. Die Sinne spielen verrückt und bilden sich Dinge ein, die aus dem tiefsten Inneren entstammen. Doch wer weiß das schon. Vielleicht waren es die Geister von Kårsavagge, die sich mir auf einer anderen Sinnesebene präsentierten.