Gegenblättriger Steinbrech

Menschliche Charakterzüge in der Pflanzenwelt

Altern ist in gewisser Weise vergleichbar mit einer Reise in den Norden. Je weiter man fortschreitet, desto mehr begrenzt sich Zeit. Gleichzeitig zeigt sich ein Lernprozess, in welchem sich das Bewusstsein über die Kostbarkeit der vorhandenen Zeit immer weiter entwickelt. Die Psyche lernt mit dem Gedanken der Zeitbegrenzung zurechtzukommen. Eine Strategie ist es, die kleinen Kostbarkeiten der Welt zu schätzen und genau darin besteht die Kunst des Lebens.

Der Wille zum Überleben

Im Mai hatte der Schnee den Nationalpark von Abisko noch immer fest im Griff. Mittlerweile ist es Juli, doch noch immer bedecken enorme Schneefelder die Berge. Nur in langsamen Schritten tritt der Frühling in Erscheinung. Die Pflanzenwelt muss sich in diesen Breitengraden, die durch eine extrem eingeschränkte Vegetationsperiode geprägt ist, durch einen eigensinnigen Charakter beweisen. Wer mit der Kürze der Zeit nicht zurechtkommt, hat in dieser Welt keine Überlebenschance. Der Gegenblättrige Steinbrech zeigt sich gänzlich unbeeindruckt von Umwelteinflüssen. Weder Kälte im arktischen Lebensraum noch Einsamkeit in schwindelerregenden Höhenlagen, in denen kaum eine Blütenpflanze gedeiht, können dem Naturwunder etwas anhaben. Temperaturen bis -15 Grad sind kein Problem für die Blüten. Doch gleichermaßen wie der Alterungsprozess den Menschen verändert, so hinterlässt die Zeit auch bei dieser Pflanze ihre Spuren. Ihre Blätter besitzen spezielle Drüsen, die kalkhaltige Flüssigkeitstropfen absondern. Diese fließen in den Pflanzenhorst und überziehen die Blätter langsam aber stetig mit einer schmutzigen Kalkschicht. Die Ästhetik leidet darunter nicht – im Gegenteil: je älter ein Individuum wird, desto schöner und prächtiger entwickelt es sich.

Die Tugend der Gutmütigkeit

Die Blumensprache hat eine lange Tradition. Sie gilt aus ausgeklügeltes System der nonverbalen Kommunikation und war im 18. Jahrhundert ein wichtiges Mittel. Jede Blüte hat ihre ganz spezielle Bedeutung. Der Dichter Alfred von der Aue assoziierte 1842 den Steinbrech mit einem Herz aus Stein, so hart wie Kieselstein. Eine unüberlegte Assoziation wie ich finde, zeigt doch gerade diese Polsterpflanze mit ihren überproportionalen Blüten ein weiches Herz in einer sonst so harschen Umgebung. Diese Steinbrechart gilt als echte Sonnenanbeterin, die perfekt auf den Augenblick vorbereitet ist, wenn die Sonnenstrahlen den Schnee zum Schmelzen bringen. Ihre Blütenanlagen bereitet sie bereits im Herbst vor, sodass das Pflänzchen in der arktischen Zone die ersten Lebenszeichen der Natur zeigt und das menschliche Gemüt zum Strahlen bringt.

Der Mut zum Farbebekennen

Diese Steinbrech-Art hat eine innere Individualität entwickelt, indem sie sich auf ganz eigene Strategien fokussiert. Wie ein tanzendes Feuerwerk öffnen sich die Blütenknospen und verwandeln die Felsnischen in ein purpurfarbenes Meer. An den Nordhängen lässt das Spektakel wegen der verspäteten Schneeschmelze allerdings noch etwas auf sich warten. Besonders freudvoll ist dieses Schauspiel für die zahlreichen Falter, Hummeln und Insekten, die früh aus dem Winterschlaf erwachen. Durch die Kombination aus polsterartigem Wuchs und überproportionalen Blüten entwickelt dieser Steinbrech eine außerordentliche Signalwirkung. Er macht mit allen Mitteln auf sich aufmerksam, steht zu sich und zeigt gleichzeitig, dass Disproportionalität die Einzigartigkeit im Leben ausmacht. Die purpurroten Farben verstärken die Attraktivität und das wissen auch Blumendichter. Nicht ohne Grund steht diese Blütenfarbe symbolhaft für Außergewöhnlichkeit und Mystik.

Die Kraft zum Steinsprengen

Was dem Dichter wohl weniger in Erscheinung trat, ist der starke Wille dieser kleinen Pflanze. Obwohl sie in einem ganz speziellen Lebensraum mit kalkhaltigen Bedingungen gedeiht, benötigt sie nicht viel zum Überleben. Sie siedelt sich selbst in Felsnischen an, die kaum etwas zu bieten haben. Es wirkt, als könne diese Art harte Felsbrocken in zwei Teile zerspalten, indem ihre Wurzeln in das harte Gestein vordringen und so den Horizont der besiedelbaren Umgebungen überschreiten. Genau diese scheinbare Charakterart brachte dieser Art und ihren Verwandten den lateinischen Gattungsnamen Saxifraga ein, der sich aus den Worten saxum für Stein und frangere für brechen zusammensetzt.

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