Wie sah dieses endlose Land vor mehr als 100 Jahren aus? Wahrscheinlich nicht viel anders als heute und doch mit einem bedeutenden Unterschied: es war unerschlossen, unberührt und roch gewaltig nach Wildnis. Wow – muss sich dieser deutsche Ingenieur gedacht haben, als er mit seinen Füßen über die kargen Plateaus stapfte.
Nicht gerade von seiner besten Seite präsentiert sich mir das Wetter an diesem Freitagmorgen. Ein Windchen bläst immer wieder regenschwere Wolken aus Richtung Norwegen ins Inland. Das Himmelsbild spiegelt meinen aktuellen Gemütszustand wider, der nach dem unerwarteten Ableben unseres verschmusten Nymphensittichs am Tiefpunkt angelangt ist. Ich will raus aus dem Alltagstrott und in meiner Trauer, der Wut und dieser negativen Gedankenwelt versinken. In einem tranceartigen Zustand begebe ich mich auf den Weg. Meine Reise in die Wildnis startet an einem Parkplatz an der E10 an der Siedlung Kopparåsen und führt mich Schritt für Schritt in mein tiefstes Inneres.
Wanderweg zum Vadvetjåkka | © Christine Riel
Seine Äußerung der Bewunderung – sei sie nun laut oder nonverbal gewesen – hatte sicher nicht den gleichen Ton wie mein Wow, dass ich heute nicht zum ersten Mal ausstoße. Mich überwältigt der Anblick wolkenverhangener Berge, welche die Hintergrundkulisse zu schroffen Felsplateaus bilden. Mit einem Mal sind alle meine Sorgen, die mich in den letzten Tagen verstimmt haben, wie weggeblasen. Ich stehe im Hier und Jetzt, habe keinen Zwang und bin mir völlig selbst überlassen. Vor mir liegt eine etwa 12 Kilometer lange Wanderung in die Einsamkeit des Vadvetjåkka Nationalparks.
Gerätefriedhof am Rand des Himmels | © Christine Riel
Die erste Hälfte des gut markierten Pfades schlängelt sich bis auf 600 Meter empor. Während sich der mächtige Gebirgsrücken Låktatjåkka hinter mir in einem dichten Wolkenmeer versteckt, scheint sich vor mir der Himmel immer wieder etwas zu öffnen. Langsam aber sicher überwinde ich jeden einzelnen Höhenmeter, bis ich unerwartet auf eine Hütte aus dem Jahr 1897 stoße. Idyllisch liegt das Häuschen auf einer Anhöhe, die an einen malerischen See angrenzt. Es ist eines der letzten Andenken an Alwin Jacobi, dem deutschen Bauingenieur, der mit großen Plänen in dieses wilde Land kam. Der Mann mit den hoch gegriffenen Träumen lebte und arbeitete in diesem Haus, bis er 1905 verstarb und einen großen Schuldenberg hinterließ. Noch heute sind die Spuren des von ihm veranlassten Kupferabbaus zu sehen. Sorgfältig aufgetürmte Steinmauern sind stumme Zeugen einer Vergangenheit, in der Menschen zur Akkordarbeit gezwungen wurden. Sie bekamen pro Kubikmeter Stein 4,50 SEK, was nach heutigem Umrechnungskurs etwa 40 Cent entspricht.
Aufgeschichtete Steine | © Christine Riel
Die Landschaft erinnert an ein berühmtes Computer-Rollenspiel. Reste einer alten Schmiede schaffen eine mysteriöse Verbindung zur regen Vergangenheit an diesem Ort. Ich entdecke von Rost überzogene Geräteteile, die der Witterung noch immer trotzen. Wie ein Puzzle scheinen sich die einzelnen Teile zusammenzufügen, bis eine nachvollziehbare Geschichte entsteht. Zahnräder einer alten Decauville-Bahn, die zum Transport der Steine genutzt wurde, dekorieren den Friedhof der Maschinen. Ich halte inne, bevor ich mich auf den weiteren Weg begebe.
Reste einer Decauville-Bahn | © Christine Riel
Mir begegnen einige Wanderer, die bereits auf dem Rückweg von ihrem kleinen Abenteuer sind. Ein Plausch mit einem schwedischen Rückkehrer macht mich geradezu stolz, hat die Unterhaltung in der Landessprache doch einwandfrei funktioniert. Je weiter nördlich ich komme, desto rauer zeigt sich die Natur. Eine willkürliche Abfolge aus Wetterereignissen scheint mir eine besondere Herausforderung stellen zu wollen. Nieselregen gepaart mit Windböen verursachen fröstelnde Zustände, sobald ich mich zu einer Pause niederlasse. An der windgeschützten Südseite eines mächtigen Felsens gedeiht eine Gruppe Wintergrün und zaubert ein magisches Leuchten in die schroffe Landschaft. Ein kleiner Schimmer der Hoffnung entwickelt sich in meinem Kopf beim Anblick dieses Überlebenskünstlers und doch ist mir bewusst, dass mein Weg noch lang ist.
Rundblättriges Wintergrün | © Christine Riel
Vadvetjåkka #2 – Wenn Berge heilen