Achterbahn im Kleiderschrank

Manchmal gleicht das Leben einer emotionalen Achterbahnfahrt. Sobald die Gedanken nach dem steilen Aufstieg ein stabiles Plateau erreicht haben, nehmen die Gehirnschwingungen ihre Fahrt auf und rasen unaufhörlich in den Abgrund. Nach einem belebenden Looping rast der Wagen in ein tiefschwarzes Loch und als Reaktion auf herausfordernde Lebensereignisse schleicht sich ein Zustand der Resignation ein.

Herzlich Willkommen! Sie befinden sich mitten in der dunklen Krisenhöhle. Auf der ruckeligen Fahrt nach draußen finden Sie unzählige Informationsschilder, die Sie mit Weisheiten zur Selbstfindung überschütten – inklusive allgemeiner Hilfestellungen und grafisch herausragenden Darstellungen. Viel Erfolg beim Entwirren Ihrer Gedankendrähte.

Das Internet ist voll von Beiträgen über Persönlichkeitserkundung, Selbstreflexion und Glückfindungsformeln. Das Geschäft mit dem Lifecoaching boomt in einer Zeit, in der die Menschheit von Lebensoptionen nahezu erschlagen wird. Eine Antwort auf die „Wer bin ich“-Frage zu finden, gleicht einer Lebensaufgabe und auch ich konfrontiere mich in Zeiten, in denen ich mich nicht im Gleichgewicht fühle, mit dieser Fragestellung. Ist es der Fluch der 30er Jahre, in einer kräftezehrenden Lebenskrise zu versinken?

Meine Persönlichkeit ist so facettenreich wie das Auge einer Fliege. Es gibt Phasen, in denen ich mein Charakteroutfit wie die Unterhose wechsle. Der Kleiderschrank meines Wesens ist prall gefüllt mit Teilen, die sich an der Saison zu orientieren scheinen. Während der Sommermonate schlüpfe ich in meinen Botanikmantel, um mich mit Leib und Seele der Pflanzenkunde zu widmen. Diese Jahreszeit steht im Zeichen der Natur, fand doch der überwiegende Teil meines bisherigen Lebens in diesen Monaten unter freiem Himmel in den einsamen Weiten der nordschwedischen Berge statt. Wechselkleidung habe ich selbstverständlich immer dabei, was im Hinblick auf die rauen Witterungsbedingungen sinnvoll erscheint. So schlüpfe ich gelegentlich in die Fotografenjacke, um eines meiner Hobbys nachzugehen. Sind die Bedürfnisse befriedigt, entspanne ich im Bloggerschlafanzug und sortiere die Gedankenflut auf einem virtuellen Blatt Papier.

Wenn der Herbst anbricht, ist es Zeit für einen Aufbruch. Ich schlüpfe in mein Abenteuerkleid und genieße eine Auszeit vom arbeitsintensiven Sommer. Im rollenden Spaßmobil verwandle ich mich in ein freiheitsliebendes Vanlife-Girl, um das Leben unbeschwert und ohne Verpflichtungen zu genießen. In den dunklen Wintermonaten fühle ich mich dagegen im Autorenpulli am wohlsten, wobei ich diesen in besonders ‚heißen‘ Zeiten gerne ausziehe und mein Designershirt präsentiere. Die klirrenden Außentemperaturen zwingen mich zu einem Leben in häuslicher Geborgenheit und an manchen Tagen verspüre ich fast stündlich den Drang zum Kleidungswechsel, um der Eintönigkeit zu entkommen und mehr Farbe ins Spiel zu bringen. Typisch Frau eben, denn der Schrank platzt vor lauter Handwerkertops und Musikerröcken aus allen Nähten.

Manchmal weiß ich nicht mehr, wohin mit all den Kleidungsstücken und ich frage mich, ob ich besser ausmisten soll. Ist es erstrebenswert, ein Lieblingsoutfit zu wählen und den Rest zu spenden? Kleider machen ja bekanntlich Leute. Sollte ich die Schale komplett abwerfen? Finde ich die Antwort auf die essentielle Frage in der Nacktheit? Fakt ist, dass mir nackt kalt ist und ich eine gewisse Faszination für Achterbahnfahrten hege. Da ich dieser Tätigkeit auch lieber gewandet nachgehen möchte, konzentriere ich meinen geistigen Blick noch einmal auf den Schrank und das in holistischer und nicht selektiver Art und Weise. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und eine Lösung offenbart sich mir mit einer überzeugenden und beruhigenden Selbstverständlichkeit.

Ich bin ein Kleiderschrank. Oder besser formuliert: ich bin so wie ich bin – eine quietschbunte Persönlichkeit mit einem Kopf voller Ideen und einem Interessenreichtum, der sich nicht in Geldwerten bemessen lässt. Ich lebe als eine Art Freigeist, der oft wegen Gedankenüberflutung, Planungslosigkeit und Impulsivität zu keinen klaren Handlungen mehr imstande ist. Mein Leben ist nicht immer perfekt und ich suhle mich nicht jeden Tag im puren Glück, denn wie jeder andere erlebe ich Rückschläge, zweifle meine Lebensentscheidungen an und frage mich, was wäre eigentlich, wenn…

Exakt diese Erkenntnis über mein eigenes Wesen ist rückblickend der unbewusst ausschlaggebende Faktor, der mich meinem persönlichen Glück ein deutliches Stück näher brachte. Mein abenteuerliches Leben ist genau der Ausdruck meines Seins, sozusagen der sichtbare Fußabdruck meines chaotischen Geistes. Es ist dieses Leben, welches mich immer wieder auf die Emotionsachterbahn mitnimmt. Doch meine Gewandungsdiversität erlaubt mir, jede einzelne meiner Facetten auszuleben. Sei es auch noch so ruckelig, windungsreich und stürmisch– für jedes Lebensereignis finde ich ein passendes Kleidungsstück und nach diesem Leben sehnt sich mein tiefstes Unterbewusstsein.

Was ist mir dir? Führst du das Leben, in der du deine Persönlichkeit uneingeschränkt entfalten kannst?

2 Kommentare zu „Achterbahn im Kleiderschrank

  1. Wow, ein Text der es wahrlich in sich hat. Soll ich dich für deine Gefühle und die Freiheit diese uneingeschränkt auszuleben und anzukleiden beneiden? Auf jeden Fall regt es mich zum Nachdenken und sinnieren an. Chapeau! Kleider machen Leute. Leute machen Kleider… und fahren Achterbahn. Cool.

    1. In erster Linie möchte ich genau das erzielen: zum Nachdenken anregen!

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