Mut zur Andersartigkeit

Nach dem Auswandern wird alles besser. Wenn ich erst meine Vergangenheit hinter mir lasse, auf Reset drücke und einen Neustart wage, dann kann sich mein Leben nur zum Guten wenden. Es war ein schönes Gedankenspiel, doch irgendwie wurde der innere Wunsch nicht wahr. Es kam mir so vor, als ob mich meine Vergangenheit mehr denn je verfolgte…

Die schwedische Mentalität gilt als ausgeglichen, entspannt und irgendwie gleichbleibend. Keiner beschwert sich über irgendetwas und allen geht es ganz gut. Die Gesellschaft ist eine relativ einheitliche Masse, in der kaum einer auffällt. Der Einzelne kann sich gelassen im Strom treiben lassen. Zugegebenermaßen war es wohl genau das, was mich einst an Schweden gereizt hat. Untergehen in der Masse und mein eigenes Leben in Ruhe und Frieden leben. Warum auch nicht, wenn das Kollektiv funktioniert?

Doch irgendwie wollte sich in den letzten fünf Jahren, die ich in Schweden verbrachte, keine richtige Seelenruhe einstellen. Ich fühlte nicht die tiefe Erfüllung, die so viele andere Auswanderer zu genießen scheinen. Zu viel an dieser schwedischen Gesellschaft erschien mir seltsam – als würden die Menschen in einer Scheinwelt leben und die wahren Gesichter verbergen. Meine Wahrnehmung dieses Miteinanders versetzte mich auf eine interessante Art und Weise in meine Kindheit zurück.

Zu Besuch in Jante

Der dänische Schriftsteller Aksel Sandemose erdachte sich einen besonderen Ort, indem das Wohl des Kollektivs über dem des Individuums steht. Es herrscht ein Idealbild geprägt durch Gleichstellung, Anpassung und Zurückhaltung. Das soziale Umfeld sorgt durch seinen Anpassungsdruck dafür, dass das egoistische Erfolgsstreben ausgebremst wird. Individualität und persönliche Entfaltung haben in dieser Gesellschaft keinen Raum. Das Jantelagen hat sich zu einem skandinavischen Verhaltenskodex aus zehn Geboten etabliert, der das schwedische Miteinander prägt. Halte dich nicht für etwas Besseres. Hebe dich nicht von der Masse ab. Ein Hoch auf die Mittelmäßigkeit, in der alle gleich sind und keiner auffällt. Tatsächlich sind die Schweden wahre Meister darin, eine Scheinwirklichkeit aufrechtzuerhalten. Missstände werden selten thematisiert.

Die Leidtragenden

Es gibt ein großes Problem an diesem Denken. Denn gerade empfindsame Seelen, die anders denken und wahrnehmen und Zusammenhänge in einem größeren Kontext herstellen, fühlen sich in dieser Welt fehl am Platz. Auch wenn die Gemeinschaft mit einem derartigen Verhaltenskodex funktionieren mag, so leidet der Einzelne, der unterdrückt und mundtot gemacht wird. Jante ist kein fiktiver Ort. Es ist die Beschreibung von überall anzutreffenden gesellschaftlichen Zuständen, in denen Individualitätsförderung und das Verständnis für Begabungen auf verschiedensten Ebenen noch lange keine Norm darstellt. Denn was es anrichten kann, wenn sensible Seelen und Andersdenkende nicht verstanden und stattdessen mundtot gemacht und in eine völlig unpassende Form gepresst werden, ist fatal.

„Mit dem Gesetz von Jante töten die Menschen ihre Chancen, das bedeutet jede Möglichkeit für Liebe und Frieden.“

Aksel Sandemose

Als ich Kind war…

…liebte ich es, die Vielfältigkeit der Natur zu ergründen. Ich hatte Mitleid mit allen Wesen des Waldes und habe einen innerlichen Schmerz empfunden, wenn ein Baum gefällt wurde. Der Tod von Haustieren zerriss meine zarte Seele. Doch ich wurde zurechtgerückt mit Worten wie: „Stell dich nicht so an. Es ist nur ein Fisch!“. Mir lag das Allgemeinwohl von jedem Lebewesen sehr am Herzen. Alles, was ich wollte, war ein harmonisches Miteinander ohne Streit und Hass. Im Laufe meines Lebens musste ich erfahren, dass meine kleine Sonnenschein-Traumwelt wohl nie zur Realität werden würde. Ich habe nicht verstanden, warum zwischenmenschliche Beziehungen von Schein geprägt waren und keine tiefere Bedeutung hatten. Warum anders denkende Menschen immer ausgegrenzt werden und die Starken ihren Hass an den empfindsamen Seelen ausließen.

Zwei Krabben im Korb

Die Krabbenkorb-Metapher beschreibt ein Phänomen, das sich immer wieder in sozialen Kreisen zeigt: Visionäre, die mutig sind und mit ihren fortschrittlichen Ideen die Welt verbessern wollen, werden von ihrem Umfeld heruntergezogen. Es ist ein primitiver Trieb, der in uns sitzt und den wir nicht einfach so abschalten können. Die traurige Konsequenz besteht darin, dass es Andersdenkende nicht schaffen, ihre fantastischen Ideen umzusetzen. Sie fühlen sich anders, unerwünscht und falsch. Doch was steckt hinter diesem Muster der gegenseitigen Unterdrückung? Warum ist es so schwer, sich mit Wohlwollen zu unterstützen?

Der Großteil der Menschheit bevorzugt ein Leben in der eigenen Komfortzone. Auch wenn der Status quo nicht herausragend ist, so bietet dieser Zustand doch eine gewisse Sicherheit. Lenken Andersdenkende die Aufmerksamkeit auf den Missstand derartiger Situationen, entsteht eine Art Bedrohung. Das Gehirn fürchtet Veränderungen, denn sie sind unbequem und mit mentaler Arbeit verbunden. Die Konsequenzen eines Umbruchs sind für unsere Gehirnwindungen nicht wirklich fassbar und bereiten Angst. Daher verlässt kaum ein Mensch die sichere Blase der eigenen Komfortzone. Wer nichts wagt, kann allerdings auch keine positiven Erfahrungen erleben. Menschen, die nie einen Schritt nach vorne wagen und stattdessen im Ist-Zustand verharren, werden also nie wissen, welche guten Dinge Veränderungen mit sich bringen können.

Das unterdrückte Kind

Die Auswirkungen einer Mentalität aus gegenseitiger Unterdrückung, Gleichstellung und Maßregelung hat fatale Folgen. Sie sind umso schwerwiegender, je ungefestigter das Selbstwertgefühl eines Menschen ist. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen der Hass anderer Menschen mich immer mehr erfüllte. Er wurde zu meinem eigenen Hass, zum Selbsthass. Ich fühlte mich innerlich leblos und leer. In meinen Fantasien malte ich mir aus, dass es für die gesamte Menschheit wohl besser wäre, wenn mein Körper kein Teil mehr von dieser Welt ist. Ich hatte mir bereits einen konkreten Plan erstellt, auf welchem Weg ich meine Seele am besten befreie.

Bist du ein Zuschauer in der Manege?

Es ist immer leichter, vom sicheren Sitzplatz aus mit dem Finger auf andere zu zeigen, anstatt sich selbst in den Kampf zu stürzen. Sich bewusst zu werden über die eigenen Fehler und Unsicherheiten. Und genau deswegen sind emotional intensive und kognititv begabte Wesen immer die schwarzen Schafe. Sie durchschauen die Missstände, machen darauf aufmerksam und ernten Ablehung. Andersartigkeit wird nicht gefördert, denn sie stellt in der genormten Welt eine Gefahr dar. Menschen, die anders fühlen, denken und handeln müssen sich immer wieder Sprüche anhören wie: „Du hältst dich wohl für etwas Besseres!“. Jeder fühlt sich furchtbar, derartig in seinem Wesen abgewertet zu werden. Diesen Seelen wurde von Kindesbeinen an eingetrichtert, dass ihre Andersartigkeit falsch ist. Empfindsame Wesen suchen die Schuld immer bei sich, schließlich wurde ihnen ihre vermeintliche Fehlerhaftigkeit ein Leben lang eingetrichtert. Sie sind reflektiert und versuchen stets, Zusammenhänge zu erkennen

Andersartigkeit stärken

Ich habe meinen Plan nie in die Tat umgesetzt. Stattdessen bin ich gewachsen und habe gelernt, mich selbst so zu lieben wie ich bin. Heute bin ich bunt, kraftvoll und voller Lebensenergie. Und ich habe den Menschen vergeben. Denn tief in meinem Herzen ist eine Flamme nie erloschen: die leidenschaftliche Liebe zum Leben, die so typisch ist für emotional intensive Seelen. Sie sind zarte Orchideenkinder, die trotz aller Widrigkeiten wachsen. Nichts in der Welt kann diesen Lebensdrang vollständig auslöschen. Andersartigkeit ist keine Schwäche. Sie hält die Normalität auf Trab und fordert sie immer wieder heraus, über ihre Normen zu reflektieren. Andersartigkeit ist die treibende Kraft, die wirklich etwas bewirken kann. Sie ist liebenswert und verdient so viel mehr Wertschätzung. Denn in einem Punkt ist doch jeder Mensch gleich: wir alle sehnen uns nach Unterstützung, Rückhalt, Liebe und Verständnis.

Gegenseitige Unterstützung und Wohlwollen ist die einzige Lösung aus diesem Dilemma. Das ist nur möglich durch Selbstliebe. Denn in Wahrheit gönnen wir anderen den Erfolg nicht, weil wir selbst nicht im tiefen Einklang mit uns sind. Weil es Mängel gibt, die wir nicht wahr haben möchten. Weil es uns zu anstrengend erscheint, genauer hinzuschauen und an uns zu arbeiten. Wir wollen, dass zuerst die anderen etwas verändern. Doch wenn sich wirklich etwas ändern soll, müssen wir bei uns selbst beginnen. Nur so können wir die Gesellschaft inspirieren und Veränderungen initiieren. Magie entsteht dann, wenn jeder sich selbst erkennt. Genau dann können sich Menschen gegenseitig unterstützen, denn sie erkennen plötzlich ihren eigenen Wert und leben danach. Nur wenn sie sich selbst lieben, nehmen sie das Gegenüber nicht mehr als Gefahr wahr. Selbstliebe schafft eine unerschütterliche Basis, die sich auch in schweren Stürmen als standhaft erweist.

„Wir Frauen bleiben emotional unfrei, solange wir befürchten müssen, dass wir uns womöglich zu entscheiden haben, ob wir gehört oder geliebt werden wollen.“

Marianne Williamson (A Woman’s Worth)

Ich habe nie über meinen Plan, mir selbst das Leben zu nehmen, berichtet. Bis zum heutigen Tag. Denn erst die gegenseitige mentale Unterstützung hat mir die Kraft gegeben, meine Geschichte in die Welt zu tragen. Ich möchte mit meiner Geschichte zum Nachdenken anregen.

Habe den Mut, die Dinge auszusprechen, denn das macht Visionäre aus. Mut ist die magische Kraft der Andersartigkeit, die in der Welt eines längst überholten kollektiven Bewusstseins mundtot gemacht wird.

2 Kommentare zu „Mut zur Andersartigkeit

  1. Hej Christine, mit diesem neuen Beitrag bringst du mich sehr zum Nachdenken. Da steckt unglaubliches drin.

    1. Hallo Nadine!
      Das freut mich sehr, dass ich dich wieder zum Nachdenken inspirieren durfte 🙂 Genau darum geht es mir.

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