Leben bedeutet Veränderung und diese ist eng geknüpft an die Vergänglichkeit. Zu akzeptieren, das nichts so bleibt wie es in diesem Moment ist, verursacht einen tiefen Schmerz. Menschen klammern sich an Dinge, Situationen, Beziehungen, Jobs – oder den Ist-Zustand. Die Angst, etwas loszulassen, dass sich verändert hat und nicht mehr in unser Leben passt, versetzt die Seele in ein emotionales Chaos. Denn das Gehirn mag eben diese Veränderungen nicht. Es hat über so viele Jahre bis Jahrzehnte unzählige Verknüpfungen, Denkweisen und Verhaltensmuster aufgebaut, die aufgrund von Erfahrungen als ‚richtig‘ und ‚gut‘ eingestuft werden. Einen mentalen Reset durchzuführen und den Speicher zurückzusetzen bedeutet Ungewissheit.
Genau da beginnt der Teufelskreis, denn diese Angst vor dem Ungewissen verursacht erst das Festhalten an alten Vorstellungen, in denen wir vermeintlich glücklich waren – was grundsätzlich keine schlechte Idee ist. Doch das, wonach wir zu greifen versuchen, ist eben nicht greifbar und so erzeugen wir uns am Ende selbst Leid und Frustration. Es ist eine Negativspirale mit einer tragischen Komik: Das Klammern lässt uns auf der Stelle treten und führt genau den Schmerz herbei, den wir eigentlich vermeiden wollen.
Wie lasse ich etwas los?
Wer loslässt, der gibt die Last der erdrückenden Schwere ab. Die Seele fliegt und gibt sich vollkommen hin an die natürlichen Bewegungen des Lebens. Diese mentale Freiheit bewusst zu spüren, verursacht ein innerliches Kribbeln. Es ist die Neugier auf das, was sich hinter dem nächsten Gipfel am Horizont verbirgt. Das Gefühl von Leichtigkeit erfüllt das Herz. Sie manifestiert sich im vollkommenen Selbstvertrauen, das stetig wächst, je mehr du loslässt. Doch wie funktioniert nun das Freimachen? Es gibt drei Leitsätze, welche die philosophischen und spirituellen Schulen lehren:
„Das Öffnen des Herzens ist nicht etwas, das man tun kann, sondern etwas, das geschieht. Der Schlüssel dazu ist Bereitschaft. Sobald Du bereit bist, etwas anzunehmen, öffnen sich die Türen Deines Herzens, und zwar so weit, wie Deine Bereitschaft reicht.“
– Safi Nidiaye –

1 – „Schau genau hin“
Was ist es, das dort im Bewusstsein so viel Raum einnimmt? Welche Gedanken, Sorgen und Zweifel bringen mein Gedankenkarussell in Schwung? Es sind Fragen einer achtsamen Beobachtung. Achtsamkeit ist der Weg des Herzens und setzt voraus, sich selbst wertungsfrei und objektiv beobachten zu können. Der Prozess zur mentalen Leichtigkeit beginnt mit dem Einlassen auf das was gerade ist, ohne darüber nachzudenken. Sich dem Leben hinzugeben gleicht einer liebevollen Hingabe und bewussten Annahme der Wirkung, in der ein tiefer Zauber liegt. Die Gedanken erreichen einen Ruhezustand, sodass die Seele die verbindende Melodie zu hören vermag, die in allem Sein liegt.
2 – „Stell dich in Frage“
Leichtigkeit in das Dasein zu bringen ist keine Erfindung der Neuzeit. Schon die griechischen Philosophen und asiatischen Zen-Meister beschäftigten sich mit der Kunst der Gelassenheit. Loslassen ist gleichgesetzt mit dem Sterben des Ichs, denn der Tod gilt als Sinnbild für das Freilassen der Seele vom irdischen Körper. Der deutsche Mönch Willigis Jäger beschreibt das Loslassen des Ichs im Vergleich zum physischen Sterben als sehr viel schwerer, denn letzteres geschieht ohne unseren Willen, während „das Sterben des Mystikers“ Bewusstsein erfordert. Sokrates forderte in seiner philosophische Aktivität unermüdlich dazu auf, sich selbst immer wieder in Frage zu stellen. Dieser Schritt ist der schwierigste und doch essentiell. Denn nur durch diese kontinuierliche Reflexion kann der Mensch innerliche Freiheit erlangen:

Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Realität, denn jedes Individuum kreiert sich sein eigenes inneres Universum. Dinge, Meinungen, Ansichten an denen wir hängen, sind unsere eigenen Gedankenkonstrukte. Befürchtungen, was passieren könnte, gründen sich auf unseren Selbsterfahrungen. In der Wahrnehmung einer anderen Person sehen die gleichen Themen schon ganz anders aus, denn sie erzeugt sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrung eine ganz eigene Wirklichkeit. Dieses Bewusstsein hilft beim Loslassen. Vertrautes und Gewohnheiten dürfen sich verflüchtigen, denn erst dann können neue Erkenntnisse in unser Bewusstsein treten, die wir dann womöglich gegenüber unserer alten Denkweise als ‚besser‘ einstufen.
3 – „Mach dich leer“
Beim Loslassen geht es darum, der Angst vor der Ungewissheit zu begegnen. Lassen wir etwas ziehen, dringen wir ein in unseren eigenen mentalen Raum. Hier herrscht zuerst ein sprudelndes Gedankenchaos, das durch unser Alltagsbewusstsein gespeist wird. Haben wir durch Meditation einen Zustand der Stille erreicht, steht der Geist plötzlich vor einem beängstigenden Zustand der Leere und dieser möchte gefüllt werden. In dieser Erfüllung liegt der Schlüssel zur persönlichen Gelassenheit und zum Selbstvertrauen. Menschen leben so sehr in Abhängigkeiten und deklarieren ihre sozialen Kontakte oder Beziehungspartner zu ihren Glücksbringern, denn sie haben selbst keinen Zugang zu ihrem inneren Reichtum und wissen den Raum der Leere nicht auszufüllen.
Doch gerade hier liegt so ein unglaubliches Potential, denn wer lernt, die innere Leere zu füllen, der erfüllt sich selbst. Er entwickelt sich zu einem Glücksbrunnen, der sich selbst speist. Die Selbstentfaltung und der Ausdruck der eigenen Seele ist der Zustand, den wir heute als Kreativität bezeichnen. Jeder Mensch strebt nach dieser Entfaltung, denn er möchte gesehen werden. Kreative Methoden dienen dem Zweck des uneingeschränkten Selbstentfaltens, denn hier begrenzen keine Regeln den Entfaltungsraum. Kreativität ist ein Werkzeug der Selbstentfaltung, um die innere Leere nach dem Loslassen zu füllen.
Aufbruch in ein neues Bewusstsein
Der Prozess des Loslassen hat eine heilsame Kraft auf das mentale Wohlbefinden. Laut dem römischen Kaiser Marc Aurel hängt das eigene Glück maßgeblich von der Beschaffenheit individueller Gedanken ab. Wer es schafft, diese drei Schritte zu durchlaufen, der lässt sich vollkommen auf das Leben ein und ist frei, leicht und glücklich. Loslassen bedeutet ein authentisches Leben im Hier und Jetzt mit mehr Lebendigkeit und Lebensfreude.
„Man kann in Veränderung nur dann Sinn finden, wenn man in diese eintaucht, mit ihr mitgeht und sich dem Tanz anschließt.“
– Allan Watts –